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Stiller Protest

Montags-Spaziergänge durch die Leutkircher Innenstadt



Leutkirch – Montagabend gegen 18.00 Uhr. Die Gallusmarkt-Stände werden gerade abgebaut. Da versammeln sich 21 Leute am Rathaus. Die meisten Frauen. Sie treffen sich zum „Spaziergang“.  Das tun sie, „weil die Grundrechte noch immer nicht alle wiederhergestellt sind“, wie eine von ihnen sagt. Dann gehen sie eine gute halbe Stunde durch die Innenstadt. Schweigend. Was sie da veranstalten, ist eine von derzeit knapp 100 ähnlichen Kundgebungen, die es jede Woche in Baden-Württemberg gibt.

Dezember 2021. „Eingeschränktes“ Leben in Deutschland. Corona hat das Land im Griff. Da gehen am 13. Dezember 2021 vier Leute durch die Innenstadt. Mit Kerzen. Ihr Ziel: an Grundrechte erinnern. Eine Woche später sind es rund 300 Personen, die ähnlich schweigend durch Leutkirchs Mitte ziehen. Bis rüber zu den Bahnhofsarkaden. Ab da bewegt sich dieser „Spaziergang“ fast jeden Montag durch die Allgäustadt. An einem dieser Spaziergänge seien es sogar rund 800 Personen gewesen, sagen Teilnehmer. Eine der wohl bestbesuchten politischen Kundgebungen in Leutkirch unter freiem Himmel während der letzten 50 Jahre.

„Immer noch lebendig“

Montagabend, 16. Oktober 2023: Am Rathaus versammelt sich die 21-köpfige Gruppe zum „Spaziergang“.  Die meisten Frauen, über 40. „Alles Leute aus der Mittelklasse: Landwirte, Handwerker, Selbständige, Rentner.“ So beschreibt Sarah Müller-Koch die Runde. Die staatlich geprüfte Gartenbautechnikerin aus Reichenhofen gehört seit Langem zu denen, die sich da immer wieder zum „Spaziergang“ zusammentun.  Von 800 auf 20 Beteiligte – hat sich der „Spaziergang“ in Leutkirch inzwischen totgelaufen? „Totgelaufen nicht. Der ist immer noch lebendig“, heißt es in der Gruppe. „Der Anlass ist jetzt weg – aber nur scheinbar weg.“  Es gäbe noch genügend Gründe für diese stille Kundgebungsform. Schließlich sei Protest notwendig, „weil alles verkehrt ist“, wie die pensionierte Fermeldeobersekretärin Monika Mayer die politische Lage in Deutschland im Herbst 2023 empfindet. Ihre Einschätzung teilt – laut Umfragen – gegenwärtig die Mehrheit der Deutschen. Das belegt eine infratest-dimap-Umfrage für den ARD-Deutschlandtrend Oktober 2023. 

„Verhandeln statt Waffen liefern“

Was sei denn „verkehrt“ in der aktuellen Bundesrepublik? Die Spaziergänger kritisieren zum Beispiel die Waffenlieferungen in die Ukraine. Sie fordern: „Verhandeln statt Waffen liefern.“ Es würden Steuergelder für Krieg verwendet ohne Zustimmung der Zahlenden und ohne parlamentarische Beschlüsse. Aus den Reihen der Teilnehmer verlauten des weiteren Worte wie Frühsexualisierung und Verlust christlicher Werte, Ideologisierung der Medien („Gefilterte Information“), Tabuisierung bestimmter Themen („Sprech- und Denkverbote“), „Wertschätzung der Verschiedenartigkeit der Völker“. Beklagt wird, dass die alten Familienwerte nichts mehr gelten, dass die klassische Familie Vater – Mutter – Kinder immer mehr in den Hintergrund gerückt werde. Besonders in der Corona-Zeit habe es eine psychische Destabilisierung der Gesellschaft gegeben, worunter vor allem die Kinder und die Alten gelitten hätten. Die Corona-Politik sei ideologisch motiviert gewesen, die Entscheider hätten sich dem wissenschaftlichen Diskurs nicht gestellt.

„Die Spaziergänger bleiben“

Der Spaziergänger-Protest sei „beständig, definitiv“, ergänzt eine Leutkircher Zahntechnikerin, die sich der Gruppe angeschlossen hat.  Auch wenn es derzeit nicht mehr viele sind, anders als in den Hochzeiten des Corona-Protestes. Nach wie vor treffe man sich regelmäßig. Man habe nach den vielen Schweigemärschen durch deutsche Orte 2022 freudig festgestellt, „dass danach die Maßnahmen aufgehoben worden sind und die allgemeine Impfpflicht nicht gekommen ist“. Laut Internet-Plattform „multipolar“ zählten Sicherheitskräfte damals bundesweit bis zu 300.000 Teilnehmende solcher „Spaziergänge“. Eine Leutkircher Teilnehmerin erinnert sich: „Das hat der Psyche immer gutgetan, dass man da mit ganz normalen Leuten sprechen kann.“ Und nicht nur sprechen. Denn inzwischen seien regelrechte Freundschaften entstanden. Manchmal gar mit gegenseitiger Hilfe. Etwa auf einem Bauernhof bei der Kartoffelernte. 

Dem Gespräch mit den „Spaziergängern“ verweigerte sich im Februar 2022 auch nicht die Leutkircher Stadtspitze. Bei einer „Zoom“-Zusammenkunft tauschten Sarah Müller-Koch und ähnlich Gesinnte ihre Meinungen mit Oberbürgermeister Hans-Jörg Henle und Stadtratsmitgliedern wie Jochen Narr, Dr. Brigitte Schuler-Kuon und Gottfried Härle aus. Es ergab sich dabei keine Einigkeit, aber man hatte ein offenes Ohr.
Julian Aicher

Transparenzhinweis: Julian Aicher, Mitglied der Redaktion der Bildschirmzeitung, hatte am ersten „Spaziergang“ im Dezember 2021 und an der entsprechenden Friedenskundgebung am Gänsbühl am Pfingstmontag 2022 teilgenommen. Aicher betrachtet das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschützte Recht auf friedliche Versammlungen unter freiem Himmel als wichtig.




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