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Regenerative Energie in KIßlegg

Es geht doch



Kißlegg – Energiewende, Klimaschutz – der Regionalverband Bodensee-Oberschwaben berät derzeit über Energien. Dabei vor allem auch über erneuerbare Kräfte wie Sonne, Pflanzen („Bioenergie“), Erdwärme, Wasser- und Windkraft. Beachtlich: In den Kreisgemeinden Amtzell Argenbühl, Aitrach, Ebenweiler, und Horgenzell entstehen mehr elektrische Kilowattstunden, als in diesen Orten insgesamt verbraucht werden. Seit 2023 auch in Kisslegg. In keiner dieser Gemeinden drehen sich Windräder. Hier eine Zwischenbilanz, aufgestellt von DBSZ-Reporter Julian Aicher.

80 Prozent. Die Bundesregierung strebt derzeit an, dass 2030 in Deutschland 80 Prozent der Summe aller genutzten elektrischen Kilowattstunden dank Erneuerbarer Energien gewonnen werden. Heute sind es in Deutschland rund 50 Prozent. Im Kreis Ravensburg haben mindestens sechs Gemeinden bereits jetzt 100 % erreicht. Sie sind elektrisch ihrer Zeit also weit voraus. Amtzell sogar mit 150 Prozent. Jetzt, 2023, hat auch Kisslegg 100 Prozent geschafft. Wie das?

„Wir ticken dezentral“

Auffällig. Wer sich mit offenen Augen durch Kisslegger Markung bewegt, sieht sie immer wieder: Brunnen direkt auf Wiesen, oft näher an Häusern, vor allem Bauernhöfen. „Wir haben eine sehr dezentrale Eigenversorgung und dezentrale Abwasserreinigung“, erklärt Kissleggs Bürgermeister Dieter Krattenmacher (CDU) die Ursprünge. Der Rathauschef: „Es gibt wohl kaum eine andere Gemeinde, die so dezentral tickt wie Kisslegg.“ Was in den 1990er-Jahren in der Allgäuer Gemeinde gegen Widerstände aus dem Landratsamt Ravensburg und dem Regierungspräsidium Tübingen durchgesetzt wurde, erweist sich heute offenbar als Glücksfall. Ein Versorgungs-Netz, das bürgerschaftlicher Eigenverantwortung und bürgerschaftlichem Eigensinn Raum gibt.

Bäuerlicher Unternehmergeist

Das hat freilich auch geschichtlich-gesellschaftliche Gründe. Da der Ort an der A 96 stark landwirtschaftlich geprägt ist, „kommt uns der Unternehmergeist unserer Landwirte sehr zugute“, erklärt Dieter Krattenmacher. Bäuerliche Familienbetriebe verfügen im württembergischen Allgäu sowohl über viel Dachflächen für Solarmodule als auch über einen Bio-Grundstoff: Gülle. Aus ihr lässt sich Biogas gewinnen. Also speicherbare Erneuerbare Energie. Nutzbar über Gasmotoren zur Stromversorgung. Klimaneutral.

Mehr noch: In Kisslegg-Rahmhaus (nahe Arnach) verwandelt die Biologische Reststoffverwertung (BRV) Speisereste zu Biogas. Und daraus auch teils zu Strom. Gegründet vom bäuerlichen Pionier Franz Rupp, lässt die BRV am Firmengelände das Biogas durch die Thüga technisch so reinigen, dass es technisch Erdgas entspricht. Über die Thüga-Gasleitung können deshalb auch Abnehmer in Leutkirch – etwa im  elobau-„Esszimmer“ oder im Brauereigasthof „Mohren“ – von diesem heimischen klimaneutralen  Brennstoff profitieren. Die eigenen BRV-Lkw kommen selbstverständlich mit BRV-Biogas auf Touren.

37 Millionem Kilowattstunden

Außerdem gewinnt in Kisslegg der Hof von Daniela und Markus Frick Biogas aus Wildpflanzen ab Hof. Mit entsprechend geschützten Blühstreifen auf den Anbauflächen. Gut für allerhand Getier – bis hin zu Rehkitzen. Zwei Millionen Kilowattstunden Strom werden dort erzeugt. Pro Jahr. Genug für rund 500 Haushalte. Allein vom Hof Frick. „Biomethan aus Kisslegg“ kann „rund 1000 Haushalte versorgen“, berichtet die Energieagentur Ravensburg. Also mindestens 2000 Privatpersonen. Ein markanter Wert für die 9200-Seelen-Gemeinde Kisslegg. Kein Wunder daher, dass Energiagentur-Geschäftsführer Walter Göppel auf Anfrage der Bildschirmzeitung Anfang November 2023 nochmals bestätigte: „Ja, die ganze Stromverbrauchsmenge wird bilanziell auf der Gesamtgemarkung Kisslegg erneuerbar erzeugt.“ Immerhin rund 37 Millionen Kilowattstunden pro Jahr (Stand 2019).

Dazu kommt: Erfreulich erneuerbare Elektrizitäts-Erträge von bäuerlichen Hofdächern fachten den Nachahmer-Willen bei Industrie und Gewerbe an. So möchte Beton-Rinninger bald mit einer eigene PV-Großanlage Strom zum Schweißen gewinnen, berichtet Bürgermeister Dieter Krattenmacher. Ein eigenes Sonnenfeld hat Mineralwasser „Krumbacher“ wohl schon verkabelt – und deckt damit den eigenen elektrischen Bedarf, „was man hört“ – so der Rathaus-Chef.

Und dann ist da ja noch die Wasserkraft. Da die Markung Kisslegg bis ans Argenufer reicht, stammt auch von den Turbinen dort wuchtig Strom. Beispielsweise hat Sägewerker Wolfgang Gletter unterhalb von Waltershofen 2015 sein Wassertriebwerk erneuert. Mit neuer Kaplan-Turbine. Ergebnis: viermal mehr mehr Elektrizität aus Gletters Wassertriebwerk. Mit 141 Kilowatt Nennleistung (laut Energieatlas Baden-Württemberg). Pro Tag also schon mal über 3000 elektrische Kilowattstunden Ertrag. An   e i n e m   Tag also so viel, wie eine dreiköpfige Familie während eines ganzen Jahres verbraucht. Auf Kisslegger Markung wirken weitere Wasserkraftanlagen. Auch kleinere. Etwa in der Furtmühle oder der Wuhrmühle.

Die Gemeinde selbst zeigte sich derweil ebenfalls aktiv. Schon 2008 verpachtete sie „alle damals attraktiven Dachflächen“ für Solarmodule. „Unsere Kläranlage ist als Biogasanlage genehmigt“, berichtet Dieter Krattenmacher: „Wir produzieren also unseren Strom und die Wärme für die innovative Klärschlammtrocknung so gut es geht selbst.“ 

In dem Ort, in dem sich der damalige Bürgermeister Friedemann Weindel in den 1990er Jahren so stark für Windkraft verkämpfte (mit einem geplanten Turm bei Emmelhofen), dreht sich heute kein einziges Windrad (der Regionalverband heut neuerdings dort eine Vorrangfläche ausgewiesen). Und trotzdem entstehen dort mehr elektrische Kilowattstunden erneuerbar als Kisslegg selbst verbraucht. Dabei lässt Rathauschef Dieter Krattenmacher im Herbst 2023 als Mitglied des Kreistags von Ravensburg keinen Zweifel daran aufkommen, dass „wir in unserer Gegend ohne Windkraft nicht auskommen werden“. 

Mehr Informationen

Biogas Oberschwäbisch vergärt … Vielfalt für saubere Energie – YouTube

Projekt Wildpflanzenbiogas in Kisslegg – YouTube

elobau – Folge 2 – Rio – Regenerativ in Oberschwaben – YouTube

BDW Oberschwaben – BDW (bdw-oberschwaben.de)

DBSZ-Reporter Julian Aicher (* 1958 in Ulm) hält sich immer wieder gerne in Kisslegg auf. Seine Eltern unterhielten in den 1960er/Anfang der 1970er Jahre auf Markung Kisslegg unterhalb von Bremberg das ehemalige Torf-Bauern-Gebäude „Roter Hof“ als Ferienhaus. In den 1980er und 1990er Jahren berichtete Aicher als Journalist mehrmals über die Bemühungen der Kisslegger Bevölkerung um eine eigene, dezentrale Trinkwasserversorgung und eine ebenso selbst organisierte Abwasserreinigung. In Aichers heutigem Wohnort Leutkich-Rotis entsteht aus Photovoltaik etwa dreimal so viel Strom wie die dort lebenden Leute verbrauchen. Angeregt durch die Bemühungen in Kisslegg unterhält das Ehepaar Abele-Aicher in Rotis seit 2004 eine Pflanzenkläranlage. www.rio-s.de




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